Lutz Rathenow, Berlin, Germany

Questions to the narrator

Metadata

Location Berlin, Germany
Date
Length 09:14

Watch and Listen

Full video (mp4, 9 min)
Preview video (mp4, 0 min)
Audio track (mp3, 9 min) Show player
×
0:00
0:00

TranscriptPlease note that this transcript is based on audio tracks and doesn't have to match exactly the video

Wie wird aus einer Veranstaltung, wie einem Rockkonzert, ein politisches Drama?

Die Situation ist politisch, wenn man steht an der einen Stelle der Stadt und man kann durch die Mauer zur anderen nicht kommen, da entsteht schnell eine Spannung, die sich ausdrückt dann in Rufen gegen die Mauer. Dass Jugendliche nicht reisen können, ist für sie das größte Problem; ansonsten sind Jugendliche ähnlich wie überall, haben ähnliche Probleme mit Eltern, mit Schule, einige politische kommen hier noch hinzu – zum Beispiel wenn jemand sehr aktiv arbeitet in einer kirchlichen Gruppe, in einer Umweltgruppe, die Kritik übt an staatlichen Maßnahmen, dann kann es mal passieren, dass irgendwann, wenn er studieren will, dann ein Mann zu ihm sagt: „Also du kannst nicht studieren, wenn du in dieser Gruppe weiter mitarbeitest.“ Das sind Probleme

Kürzlich wurde ein Rockkonzert in Berlin, in Westberlin, zu einem politischen Drama. Liegt es an der Mauer oder liegt es daran, dass die Verantwortlichen hier allgemein dazu neigen, die Kultur, insbesondere die Jugendkultur, zu politisieren?

Es ist beides. Es gibt allgemeine Probleme der Jugendlichen mit Eltern oder Schule wie überall und dann kommen noch einige besondere hinzu - zum Beispiel, wenn man an der einen Stelle steht der Stadt und kann durch die Mauer nicht in die andere gehen dann reizt das sehr schnell dazu, „Nieder mit der Mauer!“ zu rufen. Jugendliche haben hier natürlich auch großes Interesse an Rockmusik, es gibt auch hier viele Rockkonzerte und es gibt einige besondere Probleme hier, die anders sind als in England - das sind vor allem politische Probleme und dass man nicht reisen kann. Das ist zum Beispiel so - ich kenne einen Freund, der ist 19, der will studieren, macht sehr aktiv in der Kirche in einer Friedensgruppe mit und irgendwann wird er dann vorgeladen und ein Mann sagt ihm: „Du kannst nicht studieren, wenn du weiter in der Friedengruppe mitarbeitest!“

Sie haben ein Buch über Berlin geschrieben, einer geteilten Stadt; aber wenn Sie wie ich über Berlin sprechen, sprechen Sie über Berlin als ganze Stadt. Können Sie das erklären?

Ja, der Titel des Buches ist „Ostberlin“

(Geräusche)

Sie haben ein Buch über Ostberlin geschrieben, aber wenn Sie über Berlin sprechen, sprechen Sie über eine Stadt. Was ist das Bild der anderen Hälfte für einen Ostberliner?

Die andere Hälfte ist eine sehr seltsame Stadt, für mich, ist ein Teil dieser Stadt und doch eine eigene Stadt; eine Stadt, von der ich viel höre im Radio. Ich höre Radiosender aus Westberlin, ich habe viele Freunde dort, sie besuchen mich, aber ich kann nicht dorthin fahren; ich höre sehr viel, ich habe viele Informationen und das ist beides - es ist noch eins für mich und es sind zwei verschiedene Dinge - zwei Hälften, die mehr als das ehemalige Ganze ergeben. Und ich denke…

Gilt das nur für Berlin oder für den Westen im Allgemeinen, ist es das Bild vom Westen im Allgemeinen?

(englisch) Das ist speziell für Berlin. (weiter deutsch) Es ist ein spezielles Problem. Viele Berliner und Jugendliche, die hier wohnen, fühlen sich irgendwie als Berliner und Westberlin ist näher als Westdeutschland, viel näher; und da kann ich mir auch viele Dinge viel genauer vorstellen, als in München oder im Ruhrgebiet und ein ganzes Deutschland ist schwer vorstellbar und wird es auch nicht geben.

Liegt das daran, dass die Westberliner mit Ihnen diese Schizophrenie, dieses Gefühl der geteilten Stadt teilen?

Die Westberliner? Bin ich mir nicht sicher. Das ist sehr verschieden. Die Berliner, die hierher kommen, sind sehr interessiert, die Westberliner, aber es gibt ja sehr viele, die fahren nie hierher und die interessiert das, was hier abläuft gar nicht mehr.

Wir sitzen hier in einer Kirche. Die Kirche in Ostdeutschland ist offensichtlich zu einem Dach für eine Reihe kultureller Aktivitäten geworden. Wie können Sie dieses Phänomen erklären?

Ja, die evangelische Kirche ist eine sehr unterschiedlich strukturierte Kirche für viele Aktivitäten und es gibt – ich kann das jetzt nicht aus kirchlicher Sicht schildern, das würde jetzt anders gesagt, da wird das als Anregung verstanden für die Gemeindearbeit – ich sage das jetzt mal so aus meiner Sicht als Künstler. Es ist ein sehr interessanter Raum, zum Beispiel der Raum hier in der Kirche ist sehr schön, er ist jetzt nicht einfach nur ein Ersatz für ein etwas anderes, die Mauern sind sehr schön, die Kirche lädt besonders ein zum Nachdenken, zum Auseinandersetzen und dann bietet sie auch Räume und Möglichkeiten für Leute, die sonst Probleme haben, also zum Beispiel meine Bücher werden nur in der Bundesrepublik gedruckt und ich lese hier meistens in kleinen Clubs oder in Kirchen.

In einem kürzlich erschienenen Gedicht mit dem Titel „Fortschritt 49“ schrieben Sie: „Den Finger ließ ich in Verdun, das Ohr ließ ich in Stalingrad, meinen Kopf gebe ich dem neuen Staat“. Ist dies die Zusammenfassung des Zustands des Schriftstellers in einem sozialistischen Staat?

Das ist ein Satz, der ironisch ist und ernst ist. 1949 war er ernst gemeint, pathetisch, aufbauen wollend; heute ist er mehr ironisch, aber ich gebe nicht meinen Kopf und die meisten Leute geben nicht ihren Kopf, sondern sind in den letzten Jahren selbstbewusster geworden.

Wie würden Sie die Situation des Schriftstellers in Ostdeutschland heute beschreiben? Hat er einen größeren Spielraum, eine größere Freiheit als vor 10 Jahren? Was sind die Grenzen der Freiheit für ihn?

Ja, die Situation der Künstler ist in vielem besser als Situation anderer Leute, von Jugendlichen, die keine Künstler sind, die eine Rockgruppe gründen wollen, haben mehr Probleme mit der Musik, als wenn jemand schon anerkannt ist als Künstler. Künstler, Schriftsteller, die im Verband sind, können eher reisen in westliche Länder. Es sind aber in den letzten Jahren viele Bücher hier nicht erschienen, nur in anderen Staaten. Und (es sind) auch viele Schriftsteller haben die DDR verlassen. Das ist ein Problem, das besteht nach wie vor fort. Und viele sind unbekannt in der Zwischenzeit. Also die Leute, die sich hier für Literatur interessieren, haben nicht mehr so den Überblick, was eigentlich DDR-Literatur ist. Es gibt große bekannte Namen - Christa Wolf, Heiner Müller - und dann fängt schon fast etwas die Anonymität an. Das ist eine große Gefahr für die Literatur, dass sie in der Anonymität verschwindet. Im Ausland wird sie entdeckt, in Frankreich, Schweden, in den USA, vielleicht auch in England und hier kennen manche Leute diese Autoren gar nicht mehr, die da jetzt auf Reisen herumfahren.

Es gibt eine junge Generation ostdeutscher Schriftsteller; sie schreiben über die Probleme ihrer Generation. Wie würden Sie sie zusammenfassen?

Vor zehn Jahren war jeder Bekannte, den ich hatte - wollte schreiben, war jeder Schriftsteller. Das ist heute anders. Heute wird mehr fotografiert, es sind mehr Maler, es wird mehr gemalt, es gibt auch Filmversuche, mehr sinnliche Medien. Literatur ist etwas im Rückgehen, aber es wird über die Probleme geschrieben, das ist richtig und es wird vorgelesen, es gibt Resonanz, die Texte werden gehört von Gleichaltrigen - und vor drei Tagen zur Eröffnung unserer Ausstellung hier, die ich zusammen mit dem Fotografen gestaltete, waren hier 600 oder 700 Leute, das sind sehr viele. Es gibt sehr großes Interesse und das wird sehr wichtig genommen auch vom Staat und es gibt immer Meinungen dazu und das ist sehr komplizierte Situation manchmal.

Aber konkret, wie würden Sie die Probleme der jungen Generation beschreiben?

(Geräusche)

Wie würden Sie die Probleme der jungen Generation konkret beschreiben, weil der Lebensstandard in Ordnung zu sein scheint und der Zugang zu Bildung ziemlich weit verbreitet zu sein scheint? Menschen könnten den Eindruck haben - nun, was ist das Problem, wo, warum sind sie unzufrieden?

Sie wollen mal nach Westberlin gehen, wenn sie hier wohnen - das ist nicht möglich. Sie wollen mal in die Bundesrepublik oder nach Frankreich verreisen, das geht nicht. Sie wollen in der Schule offen diskutieren können, auch da gibt's Probleme. Sonst bekommt man keinen Arbeitsplatz. Und dann gibt es hier keine Arbeitslosigkeit, nicht wie in England. Aber - man bekommt nicht die Arbeit, die man will. Es ist schwer, die Arbeit zu bekommen, die man will und das schafft auch Probleme und Unzufriedenheit und man macht lustlos, man ist auch 18 und 19 und sieht eigentlich auch keine Perspektive. Man sieht also dann wieder Ähnlichkeiten, wie woanders.

Lutz Rathenow (1952)

Lutz Rathenow

Lutz Rathenow wurde 1952 in Jena geboren. Er studierte ab 1973 Germanistik und Geschichte in Jena. Er war Gründer und Leiter des oppositionellen Arbeitskreises „Literatur in Jena“, der 1975 verboten wurde. Im Zusammenhang mit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 schloss man ihn drei Monate vor seinem Examen im März 1977 vom Studium an allen Hoch- und Fachschulen der DDR aus. Wegen „Zweifeln an Grundpositionen, Objektivismus und Intellektualisieren der Probleme“ lautete die Begründung.

Lutz Rathenow verdiente seinen Lebensunterhalt danach zunächst als Transporthilfsarbeiter und Beifahrer. Ende 1977 übersiedelte er nach Ost-Berlin, wo er Arbeit als Produktions- und Regieassistent fand. Seither war er als freischaffender Schriftsteller und Theatermitarbeiter in der DDR tätig.

Rathenow war weiterhin starken Publikationsbeschränkungen ausgesetzt. 1980 brachte er ohne Genehmigung der DDR-Behörden seinen ersten Prosaband „Mit dem Schlimmsten wurde schon gerechnet“ heraus. Die DDR-Behörden reagierten darauf mit Verhaftung des Schriftstellers. Das Ermittlungsverfahren wurde nach vielfachem Protest eingestellt und Lutz Rathenow nach zehn Tagen Haft entlassen. Das Angebot der DDR-Behörden, dass er in die Bundesrepublik ausreisen könne, lehnte Rathenow ab.

Um seine Texte trotz vieler Beschränkungen einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, nutzte er Leseveranstaltungen in kirchlichen Einrichtungen oder Privatwohnungen.

Lutz Rathenow war in der unabhängigen Friedens- und Bürgerrechtsbewegung der DDR aktiv, so in der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, eine der ältesten derartigen Gruppen. Er unterhielt ein dichtes Informationsnetzwerk in Ost und West, weshalb er umfangreich durch die Stasi abgehört wurde.

Nach der friedlichen Revolution und der deutschen Widervereinigung war er weiterhin präsent und glitt nicht in die Vergessenheit ab. Mit anderen Schriftstellern trat er für die umfassende Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit ein.

Seit 2011 ist Lutz Rathenow Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen (seit 2017 Sächsischer Landesbeauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur).