Wolfgang Templin, 27. 6. 1987, ?

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Date 27. 6. 1987
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Also wie, was meinen Sie in der DDR von Menschenrechten, wenn man von Menschenrechten spricht? Was ist das?

Wir müssen schon von bestimmten Bereichen der Gesellschaft ausgehen, in denen Menschenrechte für das Leben wichtig sind. Und zum Einen – denke ich tatsächlich die Gruppe der sozialen Menschenrechte, das ist vor allem bei uns das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung. Und dann natürlich die anderen politischen Freiheitsrechte, die in der DDR besonders deutlich verletzt werden oder verhindert werden. Und auch die Möglichkeiten politischer Teilhabe, die auch sehr unentwickelt sind. Bei all diesen Sachen wäre es falsch, nur immer den Staat oder die Sicherheitsorgane anzuführen – es ist so – die Geschichte der DDR hat einen Prozess bewirkt, der viele Menschen so unselbständig gemacht hat, dass sie im tagtäglichen Leben an ganz vielen Punkten ihre Rechte nicht mehr wahrnehmen, ihre Rechte gar nicht mehr ... als ... die fehlenden Rechte gar nicht mehr als Problem empfinden. Das fängt bereits in der Kindererziehung an – viele Verantwortung, die eigentlich nur die Eltern tragen dürfen – mit ihren Kindern oder für ihre Kinder – werden bereits von der Gesellschaft oder von Institutionen übernommen. D.h. die Bildung der ganz kleinen Kinder bereits geschieht nach Plänen – dort gibt es Etappen, nach denen ein Kind … wie ein Kind aufwachsen soll und jeder der bei uns sein Kind zu Hause aufzieht, weiß wie gut es ist, wenn man sein Kind nicht nach diesen Plänen aufziehen muss. Das ist natürlich keine ... das ist kein Zwang, sondern das ist eine Gewohnheit, aber eine schlechte Gewohnheit, denke ich, die auch viele Leute selbst unterstützen, weil – es ist nicht so, dass die DDR ein Land ist, in dem man nur Angst hat. Vieles, was bei uns fehlt in diesem Land, fehlt auch aus Bequemlichkeit, weil die Leute noch, noch zu wenig gelernt haben, die Mühe der Selbständigkeit auf sich zu nehmen. Das ist auch ein ganz wichtiger Prozess. Die ganze Erziehung, die ja wichtig ist für die Mündigkeit, läuft noch so ab, dass man zum Gehorsam und zur Anpassung stärker geführt wird. D.h. die Schulpolitik ist darauf eingerichtet, einen Bürger, mit dem man leicht umgehen kann. Und da denke ich, ist es nicht nur der Kampf um ein bestimmtes Menschenrecht, sondern um eine andere Art von Leben, der einzig und allein einen Erfolg bringen kann – den wir führen müssen in allen Bereichen. Das geht bei den Kindern los und fängt in ... oder hört in vielen anderen Bereichen des Lebens auf.

Können Sie ein bisschen Beispiele geben von diesen Versuchen, um eine Art in den Menschen zu bringen, ja?

Ja. In der Menschenrechtsinitiative, zu der ich gehöre, gibt es zum Beispiel Versuche, so etwas im ersten Moment zu diskutieren, wie die Fragen Rechte der Kinder – ein Problem, das sich für viele Leute gar nicht stellt – das aber nicht nur zu diskutieren, sondern auch zu überlegen, wie kann man eigentlich selber etwas machen. Also zum Beispiel Möglichkeiten gemeinsamer Kindererziehung zu suchen. Das ist in unserem Land nicht leicht, aber ich denke, es geht. Dass man versucht, auch das, was für unsere eigene Arbeit wichtig ist, nicht so zu machen, dass wir unsere Kinder davon ausschließen. Denn wenn ... dass wir Vieles auch von dem, was nicht leicht ist für uns, mit unseren Kindern zusammen machen können. Zum Beispiel diese Sachen, die wir machen – Kirchentag von unten – dass viele versucht haben, ihre Kinder mitzunehmen. Zum Beispiel so etwas.

Ja. Wenn man über soziale Menschenrechte sprechen, was haben sie, für welche Gründe kann man Berufsverbot bekommen und Bildungsverbot?

Ja. Natürlich kriegt man Berufs- und Bildungsverbot nicht dafür, dass man eine andere Meinung hat oder irgendwann mal etwas Falsches gesagt hat. So ist die DDR nicht mehr. Dieses Problem tritt dann auf, wenn man sich konsequent engagiert. D.h. wenn man versucht, aus der eigenen Meinung, aus dem Konflikt, den man erlebt mehr zu machen als nur zu Hause darüber zu sprechen oder zu ein paar Freunden. Wenn man sich hinsetzt, einen Brief schreibt und diesen Brief mit anderen gemeinsam unterzeichnet, wenn man ihn der Öffentlichkeit gibt. Wenn man sich für Betroffene einsetzt. Zum Beispiel wenn man für Verhaftete Geld sammelt, wenn man auch sich an die Presse wendet, wenn man eine eigene Bürgerinitiative ins Leben ruft. Bei all diesen Sachen beginnt der Staat damit, dass er den Bürger warnt. Dass er ihm sagt – es ist doch sein Interesse, hier in Sicherheit zu leben – und er möchte ihm diese Sicherheit garantieren, aber das geht nicht, wenn der Bürger sich politisch so verhält. Und wenn diese Warnungen nicht befolgt werden, dann setzt irgendwann einmal der Arbeitskonflikt ein oder z.B. die Kinder bekommen dann keinen Studienplatz oder aber die Qualifikation wird nicht mehr möglich. Solche Dinge.

Wie viele Leute wissen Sie – wie viele Leute sind von diesen sozialen Menschenrechten, haben sie Probleme in dieser Richtung?

Diejenigen, die wir direkt kennen, das sind immerhin einige hundert, die wir unmittelbar kennen, deren Fälle wir auch sammeln konnten und dokumentieren können, sind immer nur eine ganz kleine Minderheit. Diese Praxis wird in der DDR auch weiter entwickelt, weil nämlich in den letzten Jahren die Zahl der gerichtlichen Verfolgungen für politisch Engagierte eher zurückgehen. Das hängt mit der internationalen Situation zusammen – die DDR möchte ihr außenpolitisches Gewicht nicht immer in Frage stellen. Die ökonomische Abhängigkeit führt auch dazu, dass sie an manchen Stellen einlenkt – d.h. die schlimmsten Formen der Repression zurücknimmt und zu leiseren, unauffälligeren übergeht – und das ist das. Und ich denke, dass das für die folgenden Jahre auch noch eine große Rolle spielen wird – vor allem deshalb, weil viele Leute, die unter ... junge Leute, die unter Bildungs- oder Berufsverbot stehen einen Ausweg wählen, der für uns alle nicht gut ist – sie verlassen das Land.

Können Sie uns ein ganz praktisches Beispiel geben für die Methoden, die der Staat, mit denen der Staat versucht, ein Mann [den Menschen] in dem Staat zu bilden, also nicht zu kontrollieren, also nicht mit der Polizei, aber die anderen Methoden, die leichteren Methoden?

Ja diese Mittel und Methoden beginnen sehr früh. Jeder Kindergarten – im Kindergarten sind Kinder, wenn sie 2 Jahre sind – aber auch schon eine Kinderkrippe haben sogenannte Bildungs- und Erziehungspläne und in denen sind nicht nur praktische Dinge festgehalten, wie wann ein Kind isst oder wie sich ein Kind anzieht – dort ist auch für diese kleinen Kinder bereits enthalten, welche Werte und welche Anschauungen man sich wünscht. Bereits im Kindergarten werden Soldaten als Vorbild hingestellt, erzählt man über die Armee, wird auch Kriegsspielzeug verwendet – da gibt es viele Aktionen dagegen – aber das geht so weiter. In der Schule bereits in der 1. Klasse wird man Mitglied der Pionierorganisation und dort erfolgt natürlich auch über die ganze Zeit eine Anpassung, eine Gewöhnung an die politischen Vorstellungen und Grundsätze des Staates. Es gibt ja Kinder, die nicht in der Pionierorganisation sind – das geht auch jetzt in der DDR – man muss als Elternteil nur konsequent sein. Aber auch jemand, der nicht in der Pionierorganisation ist, wird durch den Lehrplan sehr viele politische Bestandteile mit aufnehmen. Man kann sich als Eltern dagegen wehren. Weiter. Wenn die Kinder zu Jugendlichen werden, dann kommt eine neue Stufe in der 8. Klasse, wenn man 14 Jahre alt ist werden sehr viele, die allermeisten sogar, Mitglied der Freien Deutschen Jugend, der Jugendorganisation – in dieser FDJ sind über 90 Prozent aller Jugendlichen. Es kommt eine Tradition der DDR, die sogenannte Jugendweihe und auch dort wird über ein ganzes Jahr in der Vorbereitung versucht, dort werden alte Parteikader, Antifaschisten – dort wird versucht, das Bild der DDR so positiv darzustellen und die Rolle des Staatsbürgers, die Pflichten und Verantwortung für die Jugendlichen darzustellen. Ich denke, in dieser ganzen Zeit ist es schon wichtig, etwas anderes zu versuchen.    

Wolfgang Templin (1948)

Wolfgang Templin

Wolfgang Templin wurde am 25. November 1948 in Jena geboren. Templin ist ein deutscher DDR-Bürgerrechtler und Publizist.

Templin wuchs in der DDR auf und begann nach dem Abitur 1965 zunächst eine Lehre als Buchdrucker, welche er jedoch nicht beenden konnte. Von 1966 bis 1968 erlernte er den Beruf des Bibliotheksfacharbeiters.

Ab 1970 absolvierte Templin ein Philosophie-Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin, welches er 1974 abschloss. 1970 trat er der SED bei und wurde FDJ-Sekretär. Von Januar 1973 bis zu seiner vorsätzlichen Dekonspiration im Oktober 1975 war Templin als Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz (IME) „Peter“ für das Ministerium für Staatssicherheit tätig. Bei seiner freiwilligen Enttarnung vor einer studentischen Gesprächsgruppe gab er dabei umfassend Auskunft über Art und Umfang seiner inoffiziellen Tätigkeit. Im Anschluss an sein Studium begann er seine Dissertation als Forschungsstudent an der Humboldt-Universität Berlin. Dort beteiligte er sich an illegalen trotzkistischen Studentenzirkeln. Von 1976 bis 1977 studierte er an der Universität Warschau und knüpfte erste Kontakte zur polnischen Opposition, wie beispielsweise dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Von 1977 bis 1983 war er Mitarbeiter am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und beteiligte sich an der Arbeit unabhängiger kirchennaher Friedens- und Menschenrechtsgruppen. Hieraufhin blieb ihm ein Abschluss seiner Promotion verwehrt, weshalb er nach seiner Entlassung aus dem Zentralinstitut 1983 aus der SED austrat. Er verlor seine Stelle, erhielt ein Berufsverbot als Philosoph und Bibliothekar und arbeitete zwischenzeitlich als Putzhilfe, Waldarbeiter und Heizer.

1985 war er Mitbegründer der Menschenrechtsgruppe Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), die Protestaktionen gegen Menschenrechtsverletzungen durchführte. Er war Mitherausgeber der Samisdat-Zeitschrift „Grenzfall“. Mehrfach stellte er seine Wohnung für Treffen von DDR-Kritikern und Dissidenten zur Verfügung und hielt Kontakt zu diversen Oppositionsgruppen. Von der Staatssicherheit wurde er überwacht und mit Zersetzungsmaßnahmen belegt. So leitete das MfS gegen Templin den Operativen Vorgang „Verräter“ ein, um ihn psychisch unter Druck zu setzen. Am 25. Januar 1988 wurde er als Teilnehmer an Protestaktionen im Rahmen der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin mit seiner Frau Lotte und weiteren Oppositionellen wie Bärbel Bohley, Stephan Krawczyk und Freya Klier wegen „landesverräterischer Agententätigkeit“ verhaftet und zur Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gezwungen, wo er zunächst in Bochum ein weiteres Studium begann.

Im Anschluss an die Friedliche Revolution ging er wieder in die DDR und nahm für die IFM am Runden Tisch teil und war deren Sprecher. Über die nordrhein-westfälische Landesliste der Grünen kandidierte er 1990 für den Bundestag. 1991 gehörte er zu den Gründern der Partei Bündnis 90. 1996 wurde er als Mitglied der Grünen gestrichen.

1994 bis 1996 war er Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Haus am Checkpoint Charlie und anschließend freiberuflich als Publizist und Mitarbeiter in der politischen Erwachsenenbildung tätig. Er veröffentlichte mehrere Publikationen zur DDR-Geschichte, dem deutschen Vereinigungsprozess und aktuellen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa und beteiligte sich am internationalen Oppositionshandbuch „Lexikon der Dissidenten“ der polnischen Organisation Karta und der Robert-Havemann-Gesellschaft. Als er für die rechtslastige „Junge Freiheit“ schrieb, forderte ihn der Landesausschuss der Berliner Grünen zum Parteiaustritt auf.

Templin ist Gründungsmitglied des Bürgerbüros zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur sowie Mitglied der Grünen Akademie bei der Heinrich-Böll-Stiftung. Zudem war er Vorstandsmitglied des Trägervereins der Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus in Berlin. Im Jahre 2001 protestierte er anlässlich des 40. Jahrestages des Mauerbaus gegen die Zusammenarbeit von SPD und PDS in Berlin.

Wolfgang Templin war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und war von Juli 2010 bis Dezember 2013 Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau.